Abiturientia 2019: Vom Sinn der Faulheit …

Nein, faul waren die allermeisten unserer Abiturientinnen und Abiturienten nun wirklich nicht, wie ihre guten Noten zeigen.

Und gerade das nahm Schulleiter Dr. Sven Neufert zum Anlass, über die Bedeutung des Nicht-Arbeitens einige Gedanken zu äußern (unten die Rede im Wortlaut).

Wir gratulieren ganz herzlich:

Eva-Maria Anders, Hannah Barker, Martin Birnbach, Paulina Bleiel, Charlotte Bresink, Magnus Bresink, Yannick Broich, Ebony Eberz (1,0), Elisabeth Emrich, Henrik Flottmann, Paulina Fuhrmann, Anna Gerdes, Adrian Gierden, Justinian Gritz, Sally Jo Hartmann, Cedric Hein, Jana-Marie Herring, Leopold Herter, Christian Hintze, Emma Hohl, Jana Hölker, Maja Holler, Lenard Joswig, Tim Kahlscheuer, Daria Karabatova, Lara Klähn, Julia Kohrs (1,0), Jaqueline-Viviane Köster, Nils Kraus, Alexander Kröll, Lara Kroppen, Luca Enrique Marmulla, Annabell Notz, Julien Oms, Luca Nicolas Plassmeier, Jakob Pohlmann, Aurora Ramershoven, Sophie Roth, Tom Scharbach, Josephina Schellberg, Linda Schellenberg, Jonas Schmitz, Anna Schneider, Julia Schnürer, Maya Schomisch, Julian Seidel, Yunis Shneiwer, Angelina Thiele (1,0), Sophie Türler, Pia Vantler, Lauryn Vogt, Alexander Waerder, Sebastian Weiß-Margis und Alexander Wolf.

Abiturrede des Schulleiters Dr. Sven Neufert:

Herzlich willkommen zur Abiturfeier 2019, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen – namentlich willkommen heißen möchte ich auch Herrn Laufer, den Geschäftsführer unseres Schulträgers, Frau Dr. Meisterjahn-Knebel, unsere langjährige geschätzte Schulleiterin, Herrn Kessler und Frau Hahn-Lazarro, unsere Elternpflegschaftsvorsitzenden, und nicht zuletzt Frau Solzbacher als Vertreterin unserer Gesellschafter, ohne die unsere Schule nicht denkbar wäre.

Sehr deutlich erinnere ich mich an meinen Samstagsunterricht, den ich alle zwei Wochen in Latein und Physik hatte. In Latein waren das seltsam gedehnte Stunden, die uns alle in eine wohlige Schläfrigkeit versetzten, zumal wenn mein Lateinlehrer mal wieder von seinen Ausflügen in die Rhön oder der Erkrankung seines Hundes erzählte. Ab und an kämpften wir uns aber dann doch durch die grammatikalischen Konstruktionen lateinischer Sätze. Wir heißt: ein Mitschüler und ich. Abwechselnd dröselten er und ich ACI, NCI und ablativus absolutus in den Sätzen auf; immer darauf bedacht, uns dabei nicht anmerken zu lassen, wie lustbesetzt Übersetzen für uns beide war; die anderen vier dämmerten derweil vor sich hin. So hielten wir für unseren Lateinlehrer zumindest die Fassade eines Kursunterrichts aufrecht.

In Physik beeindruckte mich vor allem ein Mitschüler, der immer schon mit hochgeschlagenem Kapuzenpullover – man nennt sie jetzt Hoodies –  in den Unterricht kam, sich in die letzte Reihe setzte und sein phlegmatisches Vegetieren nur unterbrach, um seine abgekauten Nägel noch weiter runterzukauen. Heute leitet dieser Schüler übrigens erfolgreich seinen eigenen Verlag. Das profunde Desinteresse eines Großteils des Kurses irritierte meinen Physiklehrer erstaunlicherweise kaum. Er begegnete ihm ab und an mit einem seiner zahlreichen Chevy-Chase-Filme oder seinen gekonnten Imitationen von ALF, diesem flauschigen Außerirdischen vom Planeten Melmac. Zumindest alle Vierzig- bis Fünfzigjährigen im Raum dürften diesen Katzenliebhaber noch gut kennen. Dann wieder verbrachte unser Physiklehrer viel Zeit damit, Experimente aufzubauen und zu erklären, die spätestens dann für die meisten von uns ihren Reiz verloren, wenn wir sie in die Sprache der Mathematik übersetzen sollten.

Ich weiß nicht, ob sich bei dem ein oder anderen im Saal, vor allem meinen Kolleginnen und Kollegen, eine gewisse Empörung zu regen beginnt: Empörend, wie sehr diese Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf vernachlässigt haben. Unglaublich, was für eine schlechte Schule unser Schulleiter da besucht hat. Wir können uns darüber empören. Wir empören uns schließlich auch regelmäßig über die Faulheit unserer Schülerinnen und Schüler.

Allerdings sollten wir eines nicht vergessen: Die Faulheit ist – wie der französische Philosoph Roland Barthes es formuliert hat –  „eine fundamentale und gleichsam natürliche Gegebenheit der Schulsituation“. In der Zwangsstruktur der Schule wird Faulheit zur subjektiven Taktik, um der Repression des Unterrichts zu begegnen, dem mit ihm verbundenen Ärger und seinem Bewusstsein darüber Ausdruck zu verleihen. Für Barthes ist die Faulheit also eine indirekte Antwort auf den Zwang; eine Antwort, die Schule nicht in Frage stellt, aber „den Ausbruch der Krise vermeidet“.

Der Zumutung samstäglicher ACIs und Quantenphysik begegneten wir nicht mit der ultimativen Krise, also dem direkten Widerstand, sondern durch unsere – Faulheit. Unsere Lehrer wurden dabei zu unseren heimlichen Komplizen.

Jetzt stellt sich euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wohl die Frage, wieso ich in Gottes Namen nun über die Faulheit spreche. Nicht wenige von euch hatte ich selbst im Unterricht. Auch wenn der ein oder andere Faulheit als subjektive Taktik des indirekten Widerstands perfektioniert hat – die meisten im Raum wissen, von wem ich spreche, Namen muss ich also jetzt nicht nennen –, unterm Strich waren die allermeisten sehr fleißig. Und obwohl ich ALF – wohlgemerkt nur die erste Staffel – immer noch sehr schätze, habe ich es mir doch verkniffen, meine Lieblingsserie mit euch im Deutschunterricht zu analysieren. – Auch die Statistik spricht eine eindeutige Sprache gegen den Befund der Faulheit: 54 Schülerinnen und Schüler haben das Abitur bestanden, 22 davon mit einem Einserschnitt, drei sogar mit einem Schnitt von 1,0, außerdem drei mit einem Schnitt von 1,1.

Die Gespräche, die ich mit allen über ihre zukünftigen Pläne geführt habe, legen auch nicht gerade nahe, dass ihr euch jetzt auf die faule Haut legen werdet. Zwar richtet einer jetzt seinen VW-Bus für eine Surf-Tour her und die ein oder andere reist jetzt für ein paar Wochen oder Monate ins Ausland; die meisten aber haben den Studienbeginn fest im Blick; nicht wenige sagten mir, sie langweilten sich schon jetzt und sie wollten jetzt nicht viel Zeit verplempern und schnell weitermachen. Medizin, Jura, BWL, VWL und Wirtschaftsingenieurwesen stehen für nicht wenige von euch bald auf dem Programm.

Faulheit ist also scheinbar ein denkbar ungeeignetes Thema für eine Abiturrede in diesem Jahrgang.

Gerade dies nehme ich zum Anlass, über die Faulheit, oder genauer: über die Bedeutung des Nicht-Arbeitens zu sprechen.

Was uns mittlerweile entfallen ist: Bis in die Neuzeit hinein stand Nichtarbeit kulturell hoch im Kurs. Historiker nennen dieses Phänomen „Mußepräferenz“. In der griechischen Antike etwa bestand ein Gegensatz zwischen der schöpferischen Muße (scholé) und der körperlichen Arbeit (douleia), die gleichbedeutend damit war, nicht frei zu sein. Folglich leitetet sich der Arbeitsbegriff von doulos (der Sklave) ab. Für Aristoteles war klar: „Wir arbeiten, um Muße zu haben.“ Scholé bildet die Wortwurzel für das Wort Schule. Zumindest wortgeschichtlich ist unsere Schule also ein Ort der freien Entfaltung schöpferischer Kräfte. – Die römische Antike folgte dieser Präferenz der Muße. Der römische Bürger sollte zwar Geschäfte (negotia) treiben und seinen staatsbürgerlichen Pflichten (officia) nachkommen. Als wertvoller aber noch wurde das Ideal des „otium cum dignitate“ (würdevolle Ruhe) angesehen, der würdevollen Ruhe also, die der philosophischen und wissenschaftlichen Ausbildung des Selbst dienen sollte, kurz: der Bildung.

Die Sozialdisziplinierung und der Abbau der Mußepräferenz nimmt im Christentum seinen Ausgang. Sozialhistoriker haben überzeugend nachgewiesen, wie sich moderne Arbeitsdisziplin aus der klösterlichen Disziplin und asketischen Haltung der Mönche herleitet, die auch als erste den Tag streng stundenweise unterteilten. Ab dem 16. Jahrhundert dann gingen Luthers Protestantismus und der Calvinismus eine Liaison mit dem Kapitalismus ein und legten das Fundament für unsere heutige Arbeitsethik. Luther sah Ehe und Arbeit als Dienst an Gott und dem Nächsten. Die tägliche Arbeit sei eine göttliche Berufung, ein „Beruf“. Gemäß der calvinistischen Prädestinationslehre zeigte sich im wirtschaftlichen Erfolg und persönlichen Wohlergehen, ob ein Mensch zum ewigen Leben erwählt sei. Der neuzeitliche Mensch also rieb sich in innerweltlicher Askese auf und vermehrte sein Kapital in der Hoffnung, dadurch den Beweis für seine eigene Erwähltheit zu erhalten.

Die abnehmende Bedeutung der Religion – also die Verweltlichung unseres modernen Lebens hat die Bedeutung von Arbeit, Fleiß und Leistung aber nicht verringert, sondern noch erhöht. So stellt die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer fest: „War einstmals die Dauer der Welt, von ihrer Erschaffung bis zum Untergang im letzten Gericht, die Zeiteinheit, mit der die Menschen rechneten, so wird am Beginn der Neuzeit die Dauer des Lebens von der Geburt bis zum Tod zur bestimmenden Zeiteinheit.“[1] Einfacher ausgedrückt: Wenn wir nicht mehr an das ewige Leben glauben, müssen wir unsere 70, 80, wenn es hoch kommt 90 Jahre auf Erden so stark beschleunigen und verdichten, wie es eben geht. Hartmut Rosa, der große Soziologe moderner Beschleunigung, bringt es so auf den Punkt: „Wir wissen zwar, dass wir sterben müssen, aber wir versuchen, vor dem Sterben noch möglichst viel, unendlich viel unterzubringen.“

Ein Verhältnis zum Nicht-Arbeiten als Muße ist uns dabei abhandengekommen. Faulheit als gute Faulheit ist entweder funktional bezogen auf die Arbeit, von der man sich in der Hoffnung auf eine Absenkung des Cortisol-Spiegels erholt, nicht selten übrigens in einem perfekt durchgeplanten Urlaub voller Aktivitäten (die wir dann in sozialen Netzwerken als Beweis unserer Potenz zur Schau stellen) – oder es handelt sich um die schlechte, die pathologische Faulheit: Depression und Burn-Out. Auf die Schichten, die nicht in den kapitalistischen Prozess eingebunden sind, die also keinen Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben, blicken die Mahner eines Verfalls der kapitalistischen Leistungsgesellschaft kritisch: Peter Sloterdijk etwa spricht von der Wertetrias „Urlaub, Umverteilung, Adipositas“, die augenblicklich zur „sozialen Endformel der Bundesrepublik“ werde.

Wie Sie hoffentlich gemerkt habe, stelle ich implizit die Frage, wie wir und wie auch ihr, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ein Verhältnis zum Nicht-Arbeiten bekommen können. Ich stelle mir diese Frage, weil ich nicht davon ausgehe, dass sich der Lebenssinn in der Arbeit erschöpft, wie wir sie augenblicklich organisieren. Zugegeben: Wir leben nicht mehr in einer Sklavenhaltergesellschaft, hinter uns steht niemand mit der Peitsche; das Fließband wird bald ohne Menschen funktionieren. Die modernen Strategien der Sozialdisziplinierung sind subtiler. Wir unterwerfen uns scheinbar freiwillig einer pausenlosen Selbstoptimierung, evaluieren und quantifizieren uns und unsere Leistung. Dass diese Entwicklung nicht vor der Freizeit Halt macht, zeigen vielleicht am konkretesten die Fitness-Uhren und -Tracker, über die wir uns zu motivieren und optimieren suchen.

Die ersten Eltern beginnen sicherlich unruhig zu werden: Worauf möchte er denn hinaus? Unsere Kinder sollen also weniger arbeiten? Ja, gar der Arbeit verweigern. Oder: Einfach mal früher Schluss machen?

Zwei Perspektiven, die aufzeigen sollen, was ich für euer Verhältnis zur Arbeit hoffe und wünsche:

  1. Es gibt eine wunderbare kleine Erzählung von Herman Melville aus dem Jahr 1853: Bartleby, the Scrivener. Sie handelt von einem farblos ordentlichen, mitleiderregend anständigen, rettungslos verlassenen Schreiber einer Anwaltskanzlei in der New Yorker Wall Steet.[2] In einem Büro, das als Gefängnis beschrieben wird, vollzieht Bartleby seine weitgehend langweilige, ermüdende und stumpfsinnige Aktenarbeit zuverlässig und schnell. Eines Tages aber weigert er sich, einen Arbeitsauftrag seines Chefs anzunehmen mit den Worten: „I would prefer not to.“ (Im Deutschen: Ich möchte lieber nicht.) Der Chef ist fassungslos, hält seinen Mitarbeiter für unvernünftig und verstockt, hat aber zugleich Mitleid mit dem träumerischen und verlassen wirkenden Schreiber. Dieser verweigert im Folgenden zusehends das Arbeiten. Andere Job-Angebote seines Chefs lehnt er ab, landet schließlich im Gefängnis, verweigert dort auch die Nahrungsaufnahme und stirbt an der Gefängnismauer, in Embryonalstellung zusammengekauert. – Unschwer ist zu erkennen, wieso die Occupy-Wall-Street-Bewegung in Reaktion auf die Weltfinanzkrise von 2007/2008 diesen Bartleby zu ihrer Ikone machte. Die Hoffnung dieser Bewegung: Durch passiven Widerstand das kapitalistische System zerbrechen.

Nun möchte ich nicht, dass ihr dieser Welt und der Arbeit in ihr entsagt und euch zum Embryo zurückentwickelt. Zu sehr bin ich davon überzeugt, dass Arbeit auch im Kapitalismus sinnhaft sein kann. – Ich hoffe aber, dass ihr nie nur das macht, was euer Chef, eure Eltern oder euer Partner für vernünftig halten. Ich wünsche euch den Mut, in einer Situation des Zwangs und der Sinnlosigkeit selbstbewusst zu sagen: „I would prefer not to.“ Das kann nur ein erster Schritt sein, ist aber der mutigste.

  1. Eine zweite Perspektive: Ich selbst glaube nicht an Faulheit im Sinne der völligen Inaktivität. Diese vermittelt kaum Sinn, auch wenn sie zu Erholungszwecken notwendig ist. Was wir brauchen, ist Muße. Mit Marx gesprochen: „Reichtum ist verfügbare Zeit und sonst nichts.“ Diese Zeit der Muße eröffnet den Freiraum, uns selbst zu begegnen. Ich wünsche euch, dass ihr das schafft. Lasst euch dabei von dem leiten, was ihr persönlich braucht, nicht von dem, was gesellschaftlich angesehen ist.

Mit Hannah Arendt bin ich aber auch davon überzeugt, dass es neben der Muße noch Formen des Tätigseins gibt, die nicht gleichbedeutend mit Arbeit sind. Auf der Grundlage aristotelischer Überlegungen unterscheidet Arendt zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln/Sprechen als drei Tätigkeitsformen des Menschen. Das Arbeiten dient dem Zweck des Lebensunterhalts; der moderne Mensch ginge, so Arendts Diagnose, zunehmend in der Arbeit, also dem Produzieren und Konsumieren, auf. Handeln und Sprechen haben ihren Zweck in sich. Im Handeln und Sprechen beziehen wir uns auf andere Menschen, erzählen von uns selbst als einzigartigen Wesen und sprechen darüber, wie wir zusammenleben wollen. Ob ihr mit eurem guten Freund im Café sitzt und euch über euer Leben, ein gutes Buch oder eine gute Serie austauscht; ob ihr euch mit einer Gruppe von Menschen für eine Sache engagiert, darüber sprecht, Öffentlichkeit schafft; ob ihr gemeinsam feiert – dies alles sind Tätigkeiten, die keine Arbeit sind, aber sie sind unheimlich wichtig, für euch und für die Gemeinschaft, in der wir leben. Ich wünsche euch genug Zeit zum Handeln und Sprechen.

  1. Nun doch noch ein klammheimlicher dritter, etwas egoistischer Wunsch: Wenn ihr in 20 Jahren an eure Schulzeit zurückdenkt, dann hoffentlich nicht vorrangig an eine Zeit des passiven Widerstands, sondern auch an Stunden der Erfüllung und Muße.

Vergesst uns nicht und macht’s gut!

[1] Schnabel, S. 193.

[2] Bartleby, S. 21.