Realschulabschluss 2018: Mut haben und mutig sein

36 Realschülerinnen und -schüler haben auf Schloss Hagerhof den Mittleren Schulabschluss erreicht und erhielten im festlichen Rahmen des Kurhauses Bad Honnef ihr Zeugnis. Frau Dr. Meisterjahn richtete einen leidenschaftlichen Appell an sie.

„Mit deinen winzigen Flügeln kannst du doch nie und nimmer fliegen!“ sagen die anderen Insektenkinder zur der kleinen Hummel namens Bommel. Die kleine Hummel betrachtet ihr Spiegelbild in einem Tautropfen und sieht tatsächlich klitzekleine Flügel. Wie sollen so kleine Flügel ihren kugelrunden Körper tragen? Ich werde bestimmt niemals fliegen können, denkt sie sehr traurig.
Auf ihrem Weg nach Hause, natürlich zu Fuß, begegnet sie einer ganzen Reihe weiterer Insekten und fragt sie um Rat. Einen heißen Tipp gibt ihr Pastor Fliege, der meint, Fliegen könne man lernen. Doch erst die Grille hilft ihr wirklich weiter, in dem sie der kleinen Hummel ein Lied vorsingt:

Wenn du glaubst, du bist ganz allein,
und du fühlst dich viel zu klein, um wichtig zu sein,
geh deinen Weg.
Du wirst bald sehn,
glaub mir, du wirst es verstehn.
Jeder ist anders.
Es hat seinen Sinn, es hat seinen Sinn.

Du wirst bald wissen, wer du wirklich bist.
Schließ die Augen, hab nur Mut.
Du wirst bald wissen, dass du fliegen kannst.
Du bist du.
Du bist du.

Du musst nicht weit gehen.
Du musst nicht lang suchen.
Es steckt bereits in dir.
Alles hat seine Zeit.
Hör in dich hinein,
und du wirst ganz fest spürn,
Mut ist im Herzen.
Denn es hat seinen Sinn, alles hat seinen Sinn.

Du wirst es spürn,
hör in dich hinein,
denn Mut ist im Herzen.
Du bist du.

Und die kleine Hummel Bommel stellt für sich fest, dass sie sich nur Trauen braucht, weiß aber noch nicht so richtig, wie das geht. Woher bekommt man eigentlich Mut, s e i n e n  Mut? Der Weberknecht macht ihr dann schnell klar, dass jeder den Mut im Herzen trägt. All das trägt dann natürlich dazu bei, dass die kleine Hummel sich traut zu fliegen und siehe da, es klappt hervorragend. Sie erkannte ganz einfach, dass es Mut braucht und dass man, wenn man an sich selbst glaubt, (fast) alles schaffen kann.

Wo habe ich das gefunden? In einem wunderschönen Kinderbuch, das ich meinen Enkeln allzu gerne vorlese und das Britta Sabbag, Maite Kelly und Joelle Tourlonias geschrieben und bebildert haben.

Die 19jährige Schülerin Emma Gonzalez aus Parkland in Florida – das war der Ort, wo eines der unzähligen Attentate, auch Amokläufe genannt, auf Schüler in Schulen der USA stattfand, beschloss auch mutig zu sein. Beim Schulmassaker von Parkland erschoss am 14. Februar 2018 der 19-jährige Nikolas Cruz an seiner ehemaligen Schule, der Marjory Stoneman Douglas Highschool in Parkland, 14 Schüler und drei Erwachsene. 15 Verletzte kamen in Krankenhäuser. Unmittelbar danach plädierte der amtierende US-Präsident Trump dafür, Lehrer zu bewaffnen. Die US-Waffenlobby-Organisation National Rifle Association („Nationale Schützenvereinigung“) plädierte dafür, mehr bewaffnete Wachen in Schulen einzusetzen. Trump setzte sich also absurderweise nicht für weniger, sondern für mehr Waffen ein.

Emma Gonzalez äußerte sich anlässlich einer Demonstration von Schülern der betroffenen Schule drei Tage später folgendermaßen: „Wenn der Präsident mir ins Gesicht sagt, dass das eine schreckliche Tragödie war (…) und dass man nichts tun könne, frage ich ihn, wie viel Geld er von der National Rifle Association bekommen hat.“ (Es waren 30 Millionen Dollar.) Und sowohl an den US-Präsidenten Trump und anderer Politiker gerichtet: „Schämen Sie sich!“ Anlässlich des Marsches auf Washington, der im März 2018 dann stattfand, verlas sie vor den fast 800.000 überwiegend jungen Menschen die Namen der Getöteten. Sie weinte und schwieg danach sechseinhalb Minuten. So lange hatte der Mörder mit dem Schnellfeuergewehr gebraucht um seine Tat umzusetzen.
Insgesamt lagen 7000 Paar Schuhe auf dem Rasen vor dem Kapitol in Washington, ein Paar für jeden Schüler, der bis dahin seit dem Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School am 14. Dezember 2012 in den USA durch Waffengewalt getötet worden war.

Warum berichte ich davon? Was hat die Hummel Bommel mit Emma Gonzalez gemeinsam? Beide Beispiele veranschaulichen, dass sich offenbar aus Schwäche oder auch Duldsamkeit Kraft entwickelte, Ratlosigkeit ging in Zuversicht über. Bei den amerikanischen Jugendlichen wurde ganz deutlich, dass das Maß für sie voll war, sie wollten nicht mehr einfach nur zusehen. Sie haben gespürt, dass es auf jeden einzelnen ankommt. Sie wechselten auf die aktive Seite und mit ihnen zahlreiche Menschen im ganzen Land. Noch nie hatte ein Jugendlicher sich so entschieden verhalten wie Emma Gonzalez, sie wurde ein Teil der angestrebten Veränderung.

Und das geht nur, wenn man auf die aktive Seite wechselt. Nur dann ist es möglich, Veränderungen in Gang zu setzen, sich das eigene Leben nicht aus der Hand nehmen zu lassen, also pragmatisch vorzugehen und nicht ideologisch.

Wir wissen alle, dass viele, viele Angstmacher unterwegs sind, die Zeitungen berichten leider ja nur im Wesentlichen von den negativen Dingen, die dann dominant wirken und uns alle denken lassen, dass die Gewalt zunimmt, wir mehr Gesetze, mehr Polizei, geschlossene Grenzen und was weiß ich was brauchen. Doch Pragmatismus bewahrt uns vor Angstmacherei dieser Sorte, es lässt sich faktisch überprüfen, ob das wahr ist, was nicht selten emotional gefärbt weitergegeben wird. Ich kann euch nur dazu aufrufen, lasst euch keine Angst machen. Überprüft sehr sorgfältig, was euch Angst machen will. Bleibt stark und ändert euer Leben in der Form, wie es u.a. Emma Gonzalez vorgemacht hat.

Schon bei der Hummel Bommel wird ganz deutlich, dass Mut Zeit braucht, Mut ist nicht einfach da, sondern muss sich entwickeln. Er braucht auch günstige Umstände, damit die mutige Handlung, die ja dann erfolgt, auch wirksam ist. Eine grundsätzliche mutige Person zu sein ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, in den viele persönliche Erfahrungen eingehen. Angst wirkt dabei durchaus präventiv, indem man sich nämlich wappnet, einer veränderten Realität zu begegnen. Aber eines ist auch ganz klar, und das zeigt wiederum Emma Gonzalez, zunehmende Anschläge sind eine Realität, auf die wir nur mit Prävention reagieren können. Wir sollten nicht in Schockstarre verfallen, sondern unser Verhalten an die neuen Umstände anpassen. Nur das garantiert, dass wir Handelnde bleiben. Der Mut beginnt schon in dem Moment, in dem ich wahrnehme, dass etwas nicht stimmt. Doch dabei darf man niemals stehenbleiben. Ich möchte an dieser Stelle an die Worte erinnern, mit denen wir eingeladen haben: ‚Wer sich duckt, schützt sich nur für den Augenblick. Den Überblick behält man, wenn man sich aufrichtet.‘ (Rotraut A. Perner)

Gedanken dazu hat sich auch Timothy Snyder, Jahrgang 1969, Professor für Osteuropäische Geschichte in Yale, eine der berühmtesten Universitäten der USA, gemacht. Er hat im vergangenen Jahr ein weiteres Buch vorgestellt mit dem Titel: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Er beginnt mit der doch recht verwunderlichen Aussage (oder auch nicht): Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen. Und seine letzte Lektion, die er in diesem Buch gibt, liest sich folgendermaßen: Sei so mutig wie möglich. Wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen. – Er führt dann weiter aus: Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam. –  Übernimm Verantwortung für die Welt. – Nimm Blickkontakt auf, und unterhalte dich mit anderen. – Engagiere dich für einen guten Zweck. – Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern. – Oder auch: Achte auf gefährliche Wörter. Jede dieser sog. Lektionen erläutert er eingehend.

Warum erwähne ich das? Ich möchte nichts anderes, als dass ihr wachsam, mutig und aktiv seid, denn unser Leben in den westlichen Demokratien ist von keinem Automatismus geprägt, der bedeuten würde, es geht immer so weiter, wie wir das alle nun seit mehr als 70 Jahren erleben. Ich denke, wir wissen das auch alle insgeheim. Frieden, Wohlstand, Demokratie stellen sich nicht automatisch ein. Geschichte selbst bewegt sich auch nicht zwangsläufig zu einem Endzustand in Frieden und Wohlstand, in Freiheit und Demokratie, zu mehr Globalisierung und mehr Vernunft.

Nein, es gibt keine Garantie auf Freiheit und Vernunft. Dafür müssen wir alle arbeiten. Ihr seid diejenigen, die wie Emma Gonzalez möglicherweise eines Tages aufstehen müsst, um die Dinge zu verteidigen, die euch wichtig sind.

Und ich hoffe, dass sind auch für euch Freiheit und Demokratie, Frieden und Wohlstand. Und dazu bedarf es des Mutes aufzustehen, sich nicht zu ducken, weiter zu lernen, zu lesen, zuzuhören, sich zu informieren, auf dem Laufenden zu bleiben, kurz Entwicklungen in der Hand zu behalten.

Womit hört Frau Grille im eben genannten Kinderbuch auf?

DU WIRST ES SPÜREN,
HÖR IN DICH HINEIN,
DENN MUT IST IM HERZEN,
DU BIST DU!

(Das Lied der Grille findet ihr in euren Zeugnismappen.)

Vielleicht sollte ich euch auch noch eine Botschaft eines 15jährigen Mädchens aus Syrien mit auf den Weg geben, das 4600 Kilometer im Rollstuhl flüchtete, und das antwortete im Zusammenhang mit der Frage, ob sie irgendwann selber laufen können werde:
„Wenn man es nicht versucht, weiß man nicht, was in einem steckt.“

Nun ist es spätestens an der Zeit zu zeigen, was in euch steckt!

Ich gratuliere euch von Herzen im Namen der Schulgemeinschaft Schloss Hagerhof zum Mittleren Schulabschluss!

Dr. Gudula Meisterjahn-Knebel, OStD‘ i.E.

Unsere Realschulabsolventen: Hamza Abbas, Jonas Azrak, Marie-Sophie Burgmer, Paul Calmund, Gregor Dicks, Frank Tristan (1,8), Marian Gemmel, Lucas Göckeler, Moritz Heider, Fiona Herbst, Paula Herrmann (1,5), Til Niklas Hoffmann, Heiko Junker, Isabel Kammerer, Fiona Keßler, Maximilian Körner, Elvin Krasnic, Alia Laermann, Giovanna Lazzaro, Luca Masic, Charlotte Merchel (2,0), Manar Mohd, Blerta Morina, Ella Münch, Nanda Myint, Fabio Nolting, Anna-Lena Nützel, Niclas Richter, Alicia Römer, Leo Rössig, Tim Sauber, Lara Schmidt, Sara Schöne-Warnefeld, Nina Sommerfeld, Kristina vom Stein, Julien Wilk. Herzlichen Glückwunsch!