Sonder-Veröffentlichung: Wieso ist die Montessori-Pädagogik noch aktuell?

Anlässlich des 150. Geburtstags von Maria Montessori erscheint unsere Artikelserie, in der wir auf wesentliche Aspekte der Montessori-Pädagogik aufmerksam machen, die auch im 21. Jahrhundert als äußerst zeitgemäß erscheinen.

Sonder-Veröffentlichung: Montessori und Digitalisierung

Auszug aus einem Beitrag der neuen Schul-Chronik „Schloss Hagerhof 3.0 – Einblicke in die Gegenwart – Ausblicke in die Zukunft“

Mit Maria Montessori lässt sich Schloss Hagerhof auch im 21. Jahrhundert als eine Schule denken, die sich einerseits dem zivilisatorischen Fortschritt nicht verschließt, aber andererseits nicht alles begrüßen wird, was technologisch machbar ist. Montessori wollte […] den Menschen nicht von der Logik der Maschinen bestimmt sehen, sondern diese den menschlichen Bedürfnissen und Entwicklungszielen unterordnen. Mit ihr ist also keine Öko-Pädagogik zu machen, die das „Zurück zur Natur“ predigt. Entwicklungen der Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz können mit ihr durchaus gedacht werden.

Maria Montessori: „Die weise Natur muß die Grundlage bilden, auf der eine noch vollkommenere Supra-Natur erbaut werden kann. Es ist sicher, daß der Fortschritt über die Natur hinausgehen und andere Formen annehmen muß; aber er kann nicht erfolgen, wenn man die Natur mit Füßen tritt.“

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Unser umfassender Medienbegriff einer vorbereiteten Lernumgebung erfährt durch digitale Werkzeuge und Medien eine Erweiterung; wir werden auch in Zukunft nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig mit digitalen Medien arbeiten. Wir sehen aber in den folgenden Bereichen einen besonderen Mehrwert digitaler Werkzeuge und Instrumente im Rahmen unseres Schulkonzepts:

Selbstbestimmung: Digitales Lernmaterial kann den Schüler*innen in einem höheren Maß als bisher selbstbestimmtes Lernen ermöglichen. Augenblicklich entsteht eine Vielzahl digitalisierter Selbstlernressourcen, die auf eine Individualisierung der Lernwege abzielt. Erste Apps wie „DiLer“ der Alemannenschule Wutöschingen zielen genau darauf ab, im Sinne der Montessori-Pädagogik die Kinder zu Baumeistern ihres eigenen Lernens zu machen und die frontale Steuerung durch Lehrer*innen auf ein Minimum zurückzufahren, so dass dieser beobachtend und beratend zur Seite stehen kann. Wir sind momentan dabei, verschiedene Lernmanagementsysteme zu testen.

Selbsttätigkeit: Durch digitale Lernmaterialien entstehen neue anregende Formen der selbsttätigen Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt. Der außerordentliche Erfolg von selbst erstellten Lernvideos im Internet, in denen Schüler*innen sich selbst mit multimedialen Mitteln die unterschiedlichsten Wissensbereiche und Kompetenzen vermitteln, zeigt das große Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen, Welt selbsttätig zu erschließen und darzustellen. Formate der Schuldidaktik, die von Erwachsenen für Kinder/Jugendliche erstellt wurden, verlieren demgegenüber an Bedeutung. Den Schulbuchverlagen gefällt das naturgemäß nicht. Es entstehen hier ganz neue Möglichkeiten des peer learning. Das mobile und robuste iPad ist auch nicht nur für das Verwenden von Apps im Klassenzimmer gedacht. Im Wald oder beim Sportunterricht als Dokumentationsinstrument (Bewegungsabläufe in Zeitlupe!) oder als Instrument für junge Videojournalisten beim Interview dient es der Welterschließung mit Kopf, Herz und Hand und führt nicht von ihr weg in fiktive Spielwelten.

Individuelle Beobachtung und Dynamisierung: Digitale Selbstlernressourcen (Paradebeispiel: Die Anton-App), und strukturierte Online-Angebote (Simple Club, Sofatutor) ermöglichen eine Selbstreflexion des Lernens und die Beobachtung des Lernprozesses durch Schüler*innen und Lehrer*innen. Schüler*innen können etwa digitale Module in einem Bereich, der ihnen leichtfällt, schnell durchschreiten; in Bereichen, die für sie herausfordernd sind, wird das Hilfs- und Übungsangebot automatisch ausgeweitet. Nicht alles erscheint mir dabei immer geheuer, so überzeugen mich die Lernvideos von simple club für meine Fächer oft nicht. Vielen Schüler*innen werden aber Zugänge eröffnet, die sie nur durch mich und mein ‚Lernarrangement‘ nicht bekommen hätten.

Allerdings hat Digitalisierung gerade in diesem Bereich auch ihre potentiellen Schattenseiten. Diverse Lernmanagementsysteme erlauben mittlerweile, Chinas „social credit system“ auf das schulische Lernen zu übertragen. Nicht wenige Privatschulen werben schon damit, durch ein umfassendes Monitoring den Leistungsfortschritt von Schüler*innen für die Eltern transparent zu machen. Datafizierung, Granularisierung und „Differenz-Revolution“ (Christoph Kucklick) sind hier die Stichworte. Digitalisierung erlaubt eine feinmaschige Kontrolle von Individuen und einen differenzierten Zugriff auf sie. Sie führt oft genug auch zu einer zerstörerischen Selbstoptimierung.

Wir am Schloss Hagerhof wollen durchaus, dass Lernende sich und ihre Fortschritte beobachten können und in einer gewissen Granularität auch Lehrer*innen den Lernfortschritt ihrer Schüler*innen. Schule muss aber gegenüber Eltern auch ein geschützter Raum bleiben, sonst kann sich kein Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Lehrer*in entwickeln. Ohne Beziehungsaufbau ist Schule aber tot.

Kollaboration: Im Gegensatz zu weitverbreiteten Vorurteilen bedeutet Digitalisierung nicht Vereinzelung, sondern eröffnet neue Möglichkeiten des Austauschs und der Zusammenarbeit an Projekten – und dies auch ohne raumzeitliche Kopräsenz. Einzelne Arbeiten von Schüler*innen und Gruppen werden für größere Kreise von Mitschüler*innen einfacher zugänglich; sie können kommentiert, verändert und weiterentwickelt werden.  

Weltzugang und Weltdarstellung: In einigen Bereichen ist es Schule nicht möglich, analoges Material als Schlüssel zur Welt zur Verfügung zu stellen oder einen direkten Zugang zur Welt zu bieten. Digitale Medien können Substitution dessen sein, was anders nicht darstellbar wäre oder im schulischen Kontext nicht darstellbar ist. Im besten Fall aber werden durch digitale Medien Zugänge zur Welt und ihrer Darstellung so erweitert, dass ein Mehrwert entsteht, der durch analoge Medien nur schwerlich zu erreichen gewesen wäre. Das digital storytelling als neue erfolgreiche Methode biografischer Arbeit, in der Lebensgeschichten durch eine Verbindung von Text, Foto, Video und Grafik vermittelt werden, bildet etwa ein solches Beispiel.

Unsere Vision des Lernens umfasst eine vorbereite Lernumgebung, in der analoge und digitale Medien ihre je eigenen Vorteile ausspielen können und sich sinnvoll im Dienste der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und Jugendlichen ergänzen.

Dr. Sven Neufert 

 

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