Teil 3 der Artikel-Serie: Wieso ist die Montessori-Pädagogik noch aktuell?

Anlässlich des 150. Geburtstags von Maria Montessori erscheint unsere Artikelserie, in der wir auf wesentliche Aspekte der Montessori-Pädagogik aufmerksam machen, die auch im 21. Jahrhundert als äußerst zeitgemäß erscheinen.

Teil 3: Lernen mit allen Sinnen

Was heißt das?

In Laetoli (Tansania) sind 3,6 Millionen Jahre alte Fußspuren unseres Vorfahrens Australopithecus afarensis entdeckt worden. Einer der ältesten Nachweise für den aufrechten Gang (Bipedie). Wenn auch die genauen Zusammenhänge zwischen aufrechtem Gang, Nahrungsaufnahme und Entwicklung unseres Gehirns noch immer wissenschaftlich kontrovers diskutiert werden, so ist doch klar: Erst durch die Bipedie konnten sich unsere Hände zu einem so filigranen Organ des ‚Begreifens‘ entwickeln.

Die Anthropologin Montessori reflektiert in ihrer Pädagogik die Bedeutung sinnlicher Erfahrung für die innere geistige Ordnung des Kindes – und damit für die Menschwerdung. Im Begreifen und Verändern der Umwelt gibt sich die kindliche Intelligenz kund und wird zugleich ausgebildet. Ausgangspunkt der inneren Entwicklung abstrakter Kategorien ist die konkrete Erfahrung. Deswegen entwirft Montessori Entwicklungsmaterialien, an denen das Kind z. B. Gewicht, Rauheit, Farbe, Form, Maße erfährt und das Unterscheiden abstrakter Kategorien lernt (Konzept der ‚materialisierten Abstraktion‘). In einem umfassenderen Sinn verfolgt ihre Pädagogik diesen Ansatz, wenn sie die Bedeutung von Erfahrung für den Lernprozess hervorhebt und eine einseitig kognitive Ausrichtung der Schule ihrer Zeit kritisiert.

Maria Montessori: „Die Entwicklung der Fähigkeiten der Hand ist beim Menschen mit der Entwicklung der Intelligenz verbunden und – betrachten wir die Geschichte – auch mit der Entwicklung der Kultur. Man könnte sagen, dass, wenn der Mensch denkt, er mit den Händen denkt und handelt. […] Das Kind […], das mit den eigenen Händen arbeiten konnte, weißt eine außerordentliche Entwicklung und Charakterstärke auf.“

Wieso zeitgemäß? 

Die Kognitionswissenschaft (z. B. Mark Johnsons und George Lakoffs Theorie des embodiment), die Lernpsychologie (Konstruktivismus) und die Entwicklungspsychologie (Piaget/Aebli) haben die Bedeutung multisensorischer Erfahrungen für das Lernen in eindrucksvoller Weise bestätigt – und damit eine lange Tradition pädagogischen Denkens über die Bedeutung eines ganzheitlichen Lernens (z. B. Pestalozzi: „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“). Montessori verabsolutiert aber nicht sinnliche Erfahrung, wie zuweilen fälschlicherweise angenommen wird – und erweist sich auch dadurch weiterhin als anschlussfähig und modern. Ausgehend von sinnlicher Erfahrung könne sich der Geist erst erheben durch immaginazione (Vorstellungskraft), die im Gegensatz zur bloßen fantasia von der Realität ausgehe. Diese Vorstellungskraft müsse in der Schule geweckt werden: „Alles, was Menschen erfunden haben, Materielles wie Geistiges, ist die Frucht der Vorstellungskraft eines Menschen.“

Was bedeutet das für Schloss Hagerhof?

Dreierlei folgt daraus für uns:

  1. die Gestaltung einer abwechslungsreichen vorbereiteten Umgebung, die dem Gedanken des Lernens mit allen Sinnen entspricht
  2. eine Stärkung didaktischer Prinzipien, die vom Handeln/Erfahren zum Wissen führen
  3. das Überschreiten der Schule als Lern- und Lebensraum durch Exkursionen, Fahrten und diverse Praktika, die Erfahrungen aus erster Hand ermöglichen

Zu unserer schulischen vorbereiteten Lernumgebung gehören u. a.:

  • die Sinnesmaterialien, die im Sinne der ‚materialisierten Abstraktion‘ Begreifen über das Tun mit der Hand ermöglichen
  • die unmittelbar uns umgebundene Natur (Schulgarten, Streuobstwiese, Feuchtbiotop, Wald), die z. B. im Rahmen des Biologie-Unterrichts und der Ganztags-AGs (Garten-AG, Umwelt-AG) erkundet werden
  • sinnliche Erfahrung und Tun als ein wichtiger Aspekt unserer Mittelstufen-Projekte, z. B. in den Projekten „Lebenselixier Wasser“, „Ernährung und Landwirtschaft – Wie kommt das Essen auf den Tisch?“, „Mein ökologischer Fußabdruck – Wie beeinflusse ich durch mein Handeln meine Umwelt?“
  • die Arbeit mit der Hand an Maschinen und mit Werkzeugen, z. B. in den Fächern Gestaltung und Technik
  • die vielfältigen Musikinstrumente unserer Musik- und Musicalschule
  • die Erfahrung von Körper und Stimme im körperlichen Ausdruck beim Theaterspielen, Tanzen oder im Sport
  • die Benutzung des Stiftes beim Schreiben mit der Hand: Die Tastatur stellt eine wichtige Ergänzung dar, wir halten den Zusammenhang zwischen Hand und Gehirn und somit einen hohen Anteil selbst geschriebener Texte aber weiterhin für zentral.

Dr. Sven Neufert 

 

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